Ein Jesus-Graffiti in Mörfelden zeigt den Betrachtern den Stinkefinger. Die einen finden‘s gut, die anderen sind pikiert.
Mörfelden-Waldorf geht mit der Zeit und lud kürzlich ein zum Graffiti-Hip-Hop-Jam. Eines der Ergebnisse spaltet jetzt die Kommune: eine Jesus-Darstellung direkt an der Bahnhofsunterführung, die dem Betrachter beide Mittelfinger zeigt.
Die Stadt beruft sich auf die künstlerische Freiheit. Mörfelder Christen fühlen sich in ihrem Glauben verletzt. Selbst die Kirchengemeinden haben gespaltene Meinungen. Einer der Pfarrer findet die Stinkefinger respektlos. Zum Nachdenken würde sie niemanden anregen. Eine Pfarrerin findet es zumindest gut, dass Jesus so in die Diskussion gekommen sei. Sie sieht die Geste eher gegensätzlich – als eine Art Mittelding zwischen Segenspenden und Stinkefinger.
Was genau die obszöne Geste ausdrücken soll, weiß allerdings keiner so wirklich. Vielleicht dachte sich der Sprayer, dass, würde Jesus heute leben, er auf diese Weise seinen Unmut über die heutigen Geschehnisse in der Welt zum Ausdruck bringen würde. Mörfelden-Waldorf lud zum offenen Dialog ein, wo genau diese Frage im Mittelpunkt stand. Das Ergebnis: Viele gewannen einen neuen Blickwinkel auf das umstrittene Kunstwerk. Der Künstler selbst war nicht anwesend. Er ließ ausrichten: „Kunst stellt einen Bruch mit der Wirklichkeit dar, indem sie überspitzt, übertreibt und provoziert. Dadurch werden Denkprozesse in Gang gesetzt.“ Dieses Ziel hat er zweifelsohne erreicht.
Gott ist gütig – oder kann er auch anders?
Mich erinnert das Ganze an meinen ehemaligen Philosophie-Kreis. Der Leiter, ein ehemaliger evangelischer Pfarrer, sprach mit uns über den zornigen Gott anhand von Bibelstellen im Alten Testament. Auch Gottes Sohn war alles andere als das friedliche Lamm auf Erden. Der wahre Jesus war in Wirklichkeit ein politischer Revolutionär, der durchaus auf den Tisch hauen konnte (Beispiel Tempelszene).
Ob er nun, wäre er heute auf Welt, uns den Stinkefinger zeigen würde – ich hoffe nicht. Einerseits weil ich obszöne Gesten grundsätzlich nicht mag. Und wenn ich schon an ein höheres Wesen glaube, dann doch bitte an eines, das göttlich fern aller Aggression oder Polemik ist. Schließlich signalisiert ein Stinkefinger ja so was wie „ihr könnt mich alle mal“. Man zeigt der Welt, dass man sie verachtet, von ihr in Ruhe gelassen will. Und wenn ich eines nicht wollte, dann, dass wir Menschen Gott gleich geworden wären, und er sich von uns und unserem Tun abwendet.
Spieglein, Spieglein
Joh 14,23 (LUT 1984): Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.
Vielleicht könnte man das Graffiti auch noch ganz anders interpretieren. Heißt es schließlich nicht, dass Gott in uns allen wohnt? Könnte es also sein, dass eigentlich wir es sind, die der Welt den Stinkefinger zeigen? Schließlich leben die meisten von uns recht ichbezogen. Umfeld, Umwelt und was nach uns kommt ist uns vielleicht nicht ganz egal, aber echte Konsequenzen fallen uns schwer. Wir schaffen es nicht einmal, auf Plastiktüten oder Massentierhaltung zu verzichten. Wirtschaftsbosse und Politiker leugnen den Klimawandel für Machtorgasmen und ein paar Dollar mehr. Selbst Menschen mit Migrationshintergrund, die auch mal eine neue Heimat suchten, weil sie sich ein besseres Leben erhofften, entwickeln Ausländerhass auf Flüchtlinge.
Wenn es also ein Jesus-mit-Stinkefinger-Graffiti braucht, damit wir neu über uns und unsere Welt nachdenken, vielleicht sogar die Energie aufbringen, etwas zu ändern, dann heiligt für mich in diesem Fall der Zweck die Mittel. Ähnlich scheint Mörfelden zu denken, denn immerhin: Jesus darf erstmal hängen bleiben.
von Hilde
Foto-©: jesus-christ-g8a6994625_640
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