Was bedauern wir in unserem Leben? Und warum? Nutzt es überhaupt, etwas nachträglich zu bedauern? Und sind Menschen, die nichts bedauern, unreflektiert oder gar besser dran? Eine Betrachtung mit Antworten.
Die Idee, Leute zu fragen, was sie in ihrem Leben am meisten bedauern, hatte kürzlich die englische Kommentatorin Emma Freud. Sie interviewte dazu verschiedene Berühmtheiten und veröffentlichte ihre Antworten. Das wiederum inspirierte mich, Frauen in meinem Bekanntenkreis einmal die gleiche Frage zu stellen: Was bedauerst du in deinem Leben am meisten“ – im Sinne von leidtun, schade finden oder bereuen.
Einige Befragte antworteten umgehend, sie hätten nichts zu bedauern. Wow. Wie schaffen diese Frauen das nur, auf das eigene Leben mit vollkommener Zustimmung zurückzublicken? Wie gelingt es ihnen, jede Tat, jede Entscheidung, jedes Ereignis voll zu bejahen? Kann das sein oder setzen sie einfach eine rosa Brille auf? Anderseits – vielleicht haben sie ja Recht, denn was soll das Bedauern überhaupt? Gibt es so etwas wie richtige oder falsche Entscheidungen? Wäre etwas anders verlaufen, hätte man sich damals für rechts statt für links entschieden? Wissen können wir das nicht. Und vieles hätten wir sowieso nicht beeinflussen können. Was also soll also alles Bedauern?
Bedauern ist menschlich
Eines steht fest: Bedauern gehört klar zum Menschsein dazu. Jeden Tag müssen wir Entscheidungen treffen. Dabei ist bei aller Anstrengung, das Richtige zu tun, unvermeidlich, Fehler zu machen. Wir machen Fehler aus Unwissenheit, aus Angst, aufgrund einer Fehleinschätzung. Manchmal gehen einfach die Emotionen mit uns durch, Chancen werden nicht ergriffen, Gefahren nicht erkannt. Und dann sind wir ja auch nicht alle Engel. Wer von uns hat nicht schon mal absichtlich gelogen, andere beschimpft oder in voller Absicht verletzt?
Für die empirische Psychologie jedenfalls steht das Bedauern im Kontext der „Big Five“ (ein Persönlichkeitsmodell basierend auf fünf Grundeigenschaften) und damit wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung. Demzufolge geht das Bedauern u.a. einher mit der Fähigkeit zur Offenheit und emotionalen Tiefe. Erst die Fähigkeit, sich zu reflektieren, Fehler zu erkennen und zu bedauern, befähigt uns demnach, dazuzulernen bzw. „bessere“ Menschen zu werden.
Das Bedauern ist zudem eng korrelierend mit „Verträglichkeit“, also unserem Vermögen, mit sich und anderen zurecht zu kommen und Empathie zu empfinden. Menschen, die das Gefühl des Bedauerns von sich abkappen – so die psychologische These – versperren sich die Möglichkeit, aus dem erkannten Defizit neue Stärken zu entwickeln. Unsere Fehler und unser Bedauern sind somit die Grundlage für neue, lehrreiche Erkenntnisse und die Basis von Wachstum. Reuelosigkeit bedeutet Stillstand.
Jede Entscheidung hat Konsequenzen
Je gravierender der Fehler, desto hartnäckiger setzt sich in den meisten von uns das Bedauern fest. Wenn wir also keine Tunnel in unsere Seele graben wollen, braucht es Vergebung. Je nach Kultur und Religion gehen Menschen unterschiedliche Wege.
Christen beten zu Gott. Buddhisten beispielsweise rezitieren „nam myoho renge kyo“. Für sie gilt nämlich, das Gesetz von Ursache und Wirkung im eigenen Leben zu erkennen und es in Harmonie mit der universalen Gesetzmäßigkeit zu bringen. Es geht ihnen weniger darum, die „richtige“ Entscheidung zu treffen, sondern Verantwortung für die Konsequenz des eigenen Handels zu übernehmen. Alles, was wir tun, zeigt Wirkung. Wenn wir den Nachbarn freundlich grüßen, wirkt das anders als wenn wir stumm an ihm vorbeilaufen. Handle ich ökologisch bewusst, trage ich meinen Teil zur Umweltgesundheit bei. Gehe ich rechtzeitig los, komme ich auch pünktlich an. Ein gescheiter Gedanke, finde ich, weil man sich dann wohl schon vor seinem Handeln gut überlegt, was daraus werden könnte.
Manchmal ist es gar nicht so einfach mit dem „richtig“ und „falsch“. Schlaue Gedanken machte sich auch Voltaire. Die „beste aller Welten“ seines Romanhelden Candide entpuppte sich immer wieder als Trugschluss bzw. als naive Utopie eines einfachen Mannes von einem „perfekten“ Leben. Das Leben, so Voltaire, ist Arbeit und will gemeistert werden mit allen Ecken, Kanten und Fehlern. Immer wieder neu. Ach so ist das!
Ein Ende ohne Bedauern
Am Ende unseres Lebens sind es dann doch oft falsche Entscheidungen und Versäumnisse, die uns bewegen. Das jedenfalls behaupten Leute, die es aus der Hospizhilfe wissen müssen. Viele, die diese Welt verlassen, machen sich Vorwürfe, bedauern, nicht das Leben gelebt zu haben, welches sie sich gewünscht haben. Die häufigsten Äußerungen sind – ich zitiere: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben“. „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“. „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken“. „Ich wünsche, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.“ Uff, keine leichte Kost.
Nutze den Tag
Was lerne ich? Vor allem, dass das Leben gelebt sein will – und das geht wohl nicht ohne Schrammen, Fehler und Irrtümer. Die Erkenntnis, die Voltaires Candide am Ende des Buches zieht, gipfelt in dem Satz: „Man muss seinen Garten bebauen“. Vielleicht klingt diese Formel harmlos angesichts unser aller Nöte und Ängste. Aber sie ist eine Aufforderung an jede Einzelne, mit der Veränderung des eigenen Lebens und der Welt bei sich selbst anzufangen. Wer würdest du gerne sein? Was würdest du gerne (noch) erleben? Wolltest du nicht schon immer mal Samba tanzen? Den Rodeo Drive in LA entlangschlendern, in einen Wasserfall springen oder in Rio Karneval feiern? Mit welchen Menschen möchtest du Zeit verbringen? Welchen Träumen gibst du in deinem Leben Raum?
Mit diesen Fragen und mit Einsteins etwas abgeändertem Aufruf „Lebt wild und gefährlich!“ leite ich über zu den Antworten, für die ich mich an dieser Stelle recht herzlich danke.
Die Antworten
„Im Nachhinein wäre ich gerne einen bisschen wagemutiger und frecher gewesen. Ich hatte meinen geraden Lebensweg schon früh durchgeplant. Dadurch blieb wenig Spielraum für ungewöhnliche Erfahrungen.“ C., 52 J.
„Hätte ich heute nochmal die Chance, dann würde ich mehr reisen und von der Welt entdecken. Stattdessen hatte ich immer Gründe, warum dies oder das nun doch nicht funktioniert. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst oder nicht genug Drive, wie man heute sagt.“ A., 75 J.
„Wo fange ich an? Beim Kauf dieser sauteuren Schuhe, die ich nur einmal getragen habe? Dass ich es immer noch nicht geschafft habe, abzunehmen? Dass auf meinem Schreibtisch Chaos herrscht? Die Liste könnte ich endlos führen. Doch bedauern hilft ja nichts. Taten sind angesagt.! H., 59 J.
„Bei allen Dingen, die ich wohl irgendwie beeinflussen hätte können, bedauere ich nichts wirklich, weil es in der Folge immer auch was Positives gab. Z.B. wäre es sicher gut gewesen, nicht mit 20 zu heiraten. Doch dann hätte ich meine Kinder nicht, also genau diese beiden, und die möchte ich nicht missen. Von den Dingen, die ich nicht beeinflussen konnte, bedauere ich, nicht in eine andere Familie geboren worden zu sein. Ich hätte mir mehr Angenommensein, Liebe, Schutz und eine unbeschadete Kindheit gewünscht. Dann wäre sicher ganz vieles ganz anders gelaufen. Allerdings wäre ich dann auch nicht die, die ich heute bin.“ A., 59 J.
„Momentan bedauere ich am meisten den Brexit.“ A., 51 J.
„Ich würde heute einiges in meinem Leben anders machen. Oft wusste ich es einfach nicht besser. Mir fällt es noch heute schwer, mir meine Dummheiten oder Inkonsequenzen zu verzeihen. Vor allem aber wünsche ich mir, ich hätte mich wenigstens selber geliebt und für mich gut gesorgt. Das fällt mir heute noch schwer.“ I., 68 J.
„Ich bedaure am meisten, dass ich meinem Vater nie gesagt habe, dass ich ihn liebe. Mein Vater ist schon lange nicht mehr am Leben, und ich habe ihn in meiner Jugend mit sehr kritischen Augen gesehen. Später habe ich immer mehr verstanden und Dinge erkannt, die ich früher nicht sehen konnte. Das hätte ich ihm gern noch erklärt.“ B., 58 J.
„Dummerweise habe ich mal meine alte Vespa verkauft. Das ärgert mich noch heute. Am meisten aber vielleicht, dass ich nicht den Beruf ergriffen habe, den ich eigentlich wollte.“ E., 62 J.
„Ich hätte gern gelernt, mir mehr Unterstützung zu holen. Dass eine Bitte um Hilfe nicht einer persönlichen Niederlage gleichkommt, weiß ich, trage aber immer noch den alten, starken Glaubenssatz in mir. Ich bedauere das sehr, denn viele anstrengende und aufreibende Lebensstationen und -veränderungen wären im Austausch und mit Hilfe anderer Menschen leichter gewesen. Ich hätte von anderen gelernt und von physischer und emotionaler Unterstützung profitiert. Gemeinsam geht eben vieles leichter.“ J., 61 J.
„Früher habe ich viel Wert auf Geld, Status und Aussehen gelegt. Durch meine Oberflächlichkeit habe ich einigen wertvolle Menschen vor den Kopf gestoßen, u.a. meiner Schwester, die kein Wort mehr mit mir spricht. Ich wollte, ich hätte früher verstanden auf was es im Leben wirklich abkommt.“ E., 58 J.
Meine Mutter war oft unzufrieden mit mir. Heute übernehme ich ihren Part. Ein bisschen konnte ich diesen inneren Richter in die Schranken weisen, aber das Muster bricht immer wieder durch. Ich wünschte daher, ich hätte mein Leben mit mehr Leichtigkeit leben können. Aber vielleicht gelingt es mir ja noch im Rest der Zeit, die mir verbleibt.“ S., 81 J.
„Ich bedauere, dass meine Eltern früh starben, und ich auch keine Geschwister habe. Ich wollte daher immer eine eigene Familie. Hat aber nicht geklappt. Damit habe ich zwar meinen Frieden gemacht, doch manchmal zieht das weh durch mein Herz.“ K. 72 J.
„Je ne regrette rien. Schön wäre es. Ich habe jahrelang eine Perücke getragen, weil ich einen Glatzkopf habe. Erst mit 42 habe ich mich getraut, oben ohne in die Öffentlichkeit zu gehen.“ M. 54 J.
„Sehr schade finde ich, dass ich nie gelernt habe, Klavier zu spielen.“ H., 66 J.
photo-copyright: von meiner Lieblingsfotografin injke 1773768
Titel die Selbstreflektion und ihre ungeliebte Schwester
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