Mit zunehmendem Alter wächst auch meine Sorge um mein Gedächtnis. Die Ausstellung „Vergessen“ im Historischen Museum Frankfurt hat mich also ganz besonders interessiert. Hier eine kleine Einsicht – und warum es vielleicht manchmal ganz gut ist, sich nicht zu erinnern.
Verdammt, wie hieß nochmal meine Nachbarin, mit der ich jahrelang Tür an Tür wohnte? Offensichtlich stuft mein Gehirn einige Fakten eher als unwichtig ein. Mit solchen Erklärungen beruhige ich mich, wenn ich mich partout wieder mal an etwas nicht erinnern kann. Das passiert mir in letzter Zeit leider immer öfter. Und natürlich frage ich mich insgeheim, ob meine Vergesslichkeit noch normal ist. Ist mir die Demenz schon auf den Fersen? Das ist wohl eine Angst, mit der sich viele älter werdende Menschen beschäftigen.
Vergessen – wandelt sich mit der Zeit
Mit Interesse verfolgte ich daher die Sonderausstellung „Vergessen“ im Historischen Museum Frankfurt, die noch bis 14. Juli läuft. Dort hat man sich der verschiedenen Dimensionen des Vergessens angenommen und sich unter einer interdisziplinären Brille angeschaut. Dazu hat man Erkenntnisse aus Sozialwissenschaft, Neurowissenschaft, Psychoanalyse, Kulturgeschichte und Kunst verzahnt. Langsam wird klar: Vergessen hat viele Facetten.
Gleich zu Anfang taucht der Begriff „digitale Amnesie“ auf. Soll heißen, dass die meisten von uns vor Jahren noch zig Telefonnummern im Kopf hatten. Heute übernimmt das Smartphone diese Funktion. Auch mit dem Kopfrechnen hapert es. Ich habe noch als Erstklässlerin das 1×1 hoch und runter gebetet. Auch heute rechne ich vieles im Kopf. Eine Unmöglichkeit für die junge Verkäuferin im Schreibwarenladen. Sie scheitert schon an 3 x 0,65 Cent und braucht zur Multiplikation den Rechner. Heute wissen wir: was man nicht immer wieder und wieder übt, vertieft sich nicht und bleibt nicht hängen. Der technische Wandel verändert also auch an was wir uns erinnern oder vergessen.
Für mich gehört zu dieser „digitalen Amnesie“ auch ein „zu viel“ an Informationen. Von überall prasseln sie auf uns ein. So schnell wie ich Neues aufnehme, vergesse ich es wieder. Inzwischen kommt es sogar des Öfteren vor, dass ich wiederholt die gleiche Sache nachfragen muss. Wie hieß nochmal der Titel des Buchs? Wo hast du nochmal die Tasche gekauft? Vergessen ist für mich sogar oft richtig lästig. Besonders wenn ich viel Mühe und Zeit darauf verwandt habe, mir ein bestimmtes Wissen anzueignen. Da arbeite ich michbeispielsweise akribisch in das Thema neue Energien ein, nur um ein Jahr später festzustellen, dass ich mich kaum noch an zentrale Fakten erinnern kann. Mein Gedächtnis fragt mich leider nicht, ob das Erlernte für mich Erinnerungswert hat oder nicht.
Vergessen – lästig, hilfreich, tröstlich?
Fakt ist, dass speziell unser autobiografisches Gedächtnis wählerisch ist. Unser Selbstbild filtert die Dinge, an die wir uns erinnern – und es vergisst die Erlebnisse, die nicht dazu passen. Dabei sollen wir angeblich Schamvolles, Schmerzhaftes und Schmachvolles eher vergessen als Fröhliches und Schmeichelhaftes. So steht es jedenfalls im Begleitprospekt der Ausstellung. Dass dies Menschen sogar im größeren Ausmaß gelingt, zeigt das Thema Holocaust in der Ausstellung. Die Exponate zeigen Strategien der Abwehr der eigenen Schuld im Nachkriegsdeutschland, aber auch den Widerstand gegen das Schweigen.
Mir selbst scheint das mit dem Vergessen (oder Verdrängen?) nicht so gut zu gelingen. Dabei würde ich bestimmte Unstimmigkeiten in meinem Leben gerne lieber heute als morgen aus meinem Gedächtnis streichen. Dummerweise bleiben gerade diese Ereignisse fest in meiner Erinnerung. Warum nur? Passen diese Negativbeispiele besser in mein Selbstbild? Oder sind es vielleicht Erinnerungen, die mich wie eine Art Mahnung vor weiterem Schaden bewahren sollen?
Vergessen jedenfalls kann durchaus überlebenswichtig sein. Beispielsweise um ein Weiterleben nach einer traumatischen Erfahrung zu ermöglichen. In solchen Fällen spaltet unsere Psyche die Bedrohung dann oft vom eigenen Ich einfach ab. Die Seele speichert lediglich Fragmente als gesunde Reaktion auf ein krankes Erlebnis. Tauchen später trotzdem Erinnerungen auf, zeigt dies, dass unser Schutzpanzer durchlässig geworden ist. Fragt sich, was nun besser gewesen wäre: das Ganze weiter zu vergessen oder das Vergessen zu überwinden und sich zu erinnern?
Vergessen oder bewahren?
Jedenfalls: nicht jede Erinnerung gilt es zu bewahren. Sonst wäre kein Raum für Neues. Vergessen ist also „normal“, auch wenn wir es oft beklagen. Und erst das Vergessen ermöglichst uns das Dazu-Lernen. Das Ausblenden und Filtern in unserem Gehirn sind Bedingungen, um Raum für neue Aufmerksamkeit zu schaffen und um Neues zu abstrahieren. Erinnern und Vergessen ist also ein dynamischer, miteinander verbundener Prozess. Das Besondere bei uns Menschen ist nur, dass wir wissen, dass wir vergessen. Aber vielleicht gibt das uns auch die Chance mitzubestimmen, an was wir uns in Zukunft erinnern wollen und etwas dafür zu tun, dass es gute Erinnerungen sind.
Foto: Prospekt der Ausstellung
Dich werde ich jedenfalls nicht vergessen, liebe Hilde!