Endlich kann man tun, was man will. Geld kommt automatisch aufs Konto. Eigentlich das Paradies. Der Ruhestand hat allerdings auch ganz andere Seiten. Böse. Aber auch Unerwartete.
Manche Menschen wie der Schauspieler Christian Ulmen haben sich schon als Kind auf die Rente gefreut. Auch ich habe mir während meines Berufslebens mehr als einmal gewünscht, ich hätte auch ohne Arbeit genug Geld zum Leben. Inzwischen bin ich ein ganzes Jahr in Rente – und alles ist anders.
Eines vorab: Der Ruhestand hat gute Seiten. Ich bin endlich diesen Stress los, als Selbständige monatlich eine bestimmte Summe verdienen zu müssen. Allein der Gedanke verursacht mir heute noch ein flaues Gefühl im Magen. Und natürlich genieße ich es, dass ich jetzt aufstehen kann, wann ich will, mehr Zeit und Muße habe. Und wenn ich mich erstmal ein bisschen mehr „eingewöhnt“ habe – das ist meine Hoffnung – werde ich mich vielleicht auch nochmal ganz neu entdecken.
Jedenfalls wollen die meisten unserer Mitmenschen, so früh wie möglich in Rente gehen. Irritierend finde ich nur in diesem Zusammenhang, dass die Rente der Gesundheit und dem Wohlbefinden schaden kann. Das ist laut seriösen Studien so unumstritten, dass sie sogar in der offiziellen Statistik der Weltgesundheitsorganisation als Krankmacher auftaucht. U.a. berichteten Wissenschaftler der Universität Zürich, dass Menschen umso früher starben, je eher sie in Ruhestand gingen – und zwar nicht nur jene, die gesundheitliche Probleme hatten. Werner Prosinger, Autor von „In Rente“, resümiert, dass es mehr Selbstmorde, Depressionen und Alkoholismus nach Eintritt in die Rente gibt. Beziehungen gehen häufiger kaputt, die Gesundheit verschlechtert sich oft schlagartig. Nur zugeben würde das kaum jemand.
Zero Future und dazu Arthrose – aber zufrieden
Damit wir uns recht verstehen: dies hier wird kein Plädoyer zur Hebung des Renteneintrittalters. Die Aussicht auf Rente hat schon was – zumal uns in zahlreichen Werbespots gern das Bild vom glücklichen Leben eines Best-Agers gezeichnet wird. Ein Bild, das übrigens zu stimmen scheint. Umfragen zufolge beschreibt sich die Mehrheit der Rentner als zufrieden. Heute sind die Alten so gesund wie nie zuvor. Sie fühlen sich fit und leistungsfähig. Und an Geld fehlt es in der Regel auch nicht (das Thema wachsende Altersarmut lasse ich hier mal außen vor). Das hört sich doch alles super gut an.
Doch die Einschnitte ins Leben, die der Ruhestand mit sich bringt, sind radikal. Jedenfalls ist die Vorstellung, mit dem Abschied aus der Arbeitswelt beginne ein schöneres und selbstbestimmteres Leben, ein immerwährender Urlaub, schlichtweg falsch.
Warum? Der Ruhestand ist ein Abschied aus der Produktivgesellschaft. Ein Abschied, dem kein neuer Anfang innewohnt. Zwar gaukelt die Politik uns vor, wenn sie vom Ende des Arbeitslebens spricht, als wäre der wohlverdiente Ruhestand eine Art Auszeichnung. In unserer Gesellschaft sind Alte jedoch nicht wie in anderen Kulturen weise und klug. Allein die Ökonomie liebt uns, weil wir ein kaufkräftiges Publikum sind. Doch Rentner stellen angesichts Rentenzahlungen, Gesundheits- und Pflegeaufwand ansonsten eher einen ungeliebten Kostenfaktor dar. Trotz Fachkräftemangel sind Ältere auch in der Arbeitswelt wenig gefragt – trotz aller Appelle der Politik, die uns so lange es geht im Job halten will. Etwa die Hälfte (!) aller Unternehmen in Deutschland beschäftigt keine Mitarbeiter über 50. Älteren wird ein früheres Ausscheiden mit Abfindungen versüßt. Jüngere werden eingestellt. Die sind billiger, flexibler, anpassungsfähiger, belastbarer, weniger krank. Alle diese Annahmen bzw. Vorurteile stehen auf wackeligen Beinen. Aber das Resultat dieser Realität ist, dass wir Ältere nicht gerade das Gefühl vermittelt bekommen, noch für irgendwas (außer zum Konsumieren) gut zu sein.
Außerdem: Zumindest für mich war mit dem Beruf vieles verbunden, was Halt gibt: ein strukturierter Tagesablauf, soziale Kontakte und im günstigen Fall auch ab und an Erfolgserlebnisse, Anerkennung und Sinnstiftung. Im Ruhestand fällt das plötzlich weg. Du kannst deine alten Kollegen noch so oft besuchen wie du willst, du gehörst nicht mehr dazu, wurdest ersetzt – jedenfalls beruflich. Die glückstiftende Rolle als Oma fällt für mich auch weg. Und damit bin ich nicht allein. Viele der jungen Alten sind einsam, wenn sie nicht mehr berufstätig sind. In Bundesländern wie Berlin und Brandenburg wird heute schon jeder Dritte anonym bestattet.
Der Kampf gegen das Alter
Nun hat aber jedes Lebensalter seine eigenen Werte und Ziele. Psychoanalytiker C. G. Jung beschreibt die zweite Lebenshälfte als eine Zeitspanne, in der der Mensch Bilanz ziehen und das Pro und Contra neuer Ziele sorgfältig prüfen müsse sowie, vor allem aber, sich selbst findet. Dem Ruhestand Perspektiven abzugewinnen, ist daher so nötig wie möglich, aber auch äußerst herausfordernd. Zudem wir parallel unweigerlich feststellen, dass wir körperlich und/oder auch geistig nicht mehr alles so leicht bewältigen wie früher. Wir werden langsamer. Das eine oder andere Wehwehchen hat sich eingestellt. Uns ist klar: Das wird nicht besser. Älterwerden – das hat was Beängstigendes.
Und entsprechend verhalten wir uns. Wir straffen unsere Falten, färben unserer Haare, schlucken Vitamine, tragen modische Outfits. Der Jugendlichkeitskult scheint in Zeiten des demografischen Wandels keine Grenzen mehr zu kennen. In unserer auf Leistung und Perfektion getrimmten Gesellschaft gelten makellose Körper als ästhetisches Ideal. Alternde Menschen will keiner sehen, sie lösen Unbehagen und Abwehr aus. Daher werden Zeichen des Verfalls kaschiert oder korrigiert. Die Headlines in der Boulevardpresse sprechen aus, worum es geht: „Jung bleiben beim Älterwerden“ oder „Alt werde ich später“. Die Botschaft ist stets die gleiche: Altern ist kein Schicksal. Mit den richtigen Maßnahmen lässt es sich verschieben. Letztlich bedeutet das aber auch: Wem es nicht gelingt, jung zu bleiben, ist selbst schuld. Es ist wie ein ungeschriebenes Gesetz, das verlangt, dem Vergleich mit der Jugend so lange als möglich standzuhalten. Wem das nicht gelingt, sieht im wahrsten Sinne des Wortes „alt aus“.
Beschäftigter Rentner – erfolgreicher Rentner?
Es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Die Fixierung auf Attraktivität und Vitalität lässt uns keinerlei Raum für Gedanken über die Vergänglichkeit. Und weil wir immer weniger an ein Weiterleben im Jenseits glauben, klammern wir uns an das, was wir hier im Diesseits haben: an unseren Körper, unseren Status. Nichts soll sich verändern und uns an das unausweichliche Ende erinnern.
Dabei zeigt sich der Jugendwahn aber nicht nur im Kampf um die ewige Jugend. Ebenso stark ist der „Aktivitätsdruck“ der auf uns lastet. Es scheint, als reichten Freundschaften, Hobbies, gesunde Ernährung und sportliche Aktivitäten nicht mehr aus, um gut zu altern. Der Tatendrang der jungen Alten wird vor allem durch die Medien drastisch angeheizt. Da umsegeln Mitsechziger die Welt. Wieder andere gründen eine Familie mit 72 Jahren oder eröffnen einen Surfclub auf Hawaii. Diese Vorzeigerentner genießen Lob und Bewunderung. Selbst Politiker und Ökonomen fordern, die Ressourcen von uns Best Agern zu nutzen. Wir sollen länger arbeiten, uns ehrenamtlich engagieren, unbezahlte Arbeit in sozialen Diensten, Nachbarschaft und Familie leisten.
Jedenfalls treffe ich inzwischen kaum einen Rentner mehr, der nicht wegen eines übervollen Terminkalenders gestresst ist oder zumindest so tut (die anderem haben sich wahrscheinlich zuhause eingebunkert). Stress scheint ein Statussymbol für Ältere geworden zu sein gemäß dem Motto: „Ich bin sehr beschäftigt, also bin ich ein ‚erfolgreicher‘ Rentner“. Mich nervt das. Ebenso wie die Frage, die ich mir des Öfteren anhören muss „Was machst du denn eigentlich den ganzen Tag?“.
Die neuen Klischees sind jedenfalls genauso tyrannisch, wenn nicht tyrannischer als die alten. Sie zeichnen ein Bild, dem längst nicht alle Menschen über 60 entsprechen. Manche sind zu derartigen Abenteuern gar nicht mehr fähig, andere nicht mehr willens. Die meisten sind froh, dass sie nicht mehr unter Leistungsdruck stehen. Sie wollen in Ruhe Bücher lesen, malen, musizieren oder sich einfach treiben lassen. Weisheit und Muße – das waren zumindest einmal die Freuden der Alten.
Altwerden erfordert Entscheidungen
Und nun? Mir persönlich fehlt es an Vorbildern, an denen ich mich orientieren könnte. Ich muss also meinen eigenen Weg finden. Gehe ich jetzt für ein Jahr als Babysitter nach Australien, werde Mitglied bei „Rent-a-Rentner“ und blogge über meine Erfahrungen auf Instagram? Jetzt endlich all das verwirklichen, was früher nicht möglich war? Oder stehe ich zu meinen grauen Haaren, experimentiere mit meiner Rolle und Ausdruckskraft? Die Frage steht für uns alle im Raum: Sollen wir den geordneten Rückzug antreten oder den Ruhestand als eine Art Privileg betrachten oder zumindest als Zustand, der uns mit Privilegien ausstattet? Wie bewältigen wir die Schattenseiten einer Kultur, die uns eine eigene Identität verweigert, weil sie „jungen“ Idealen anhängt?
Jedenfalls kenne ich die Schwierigkeit, mein neues Leben zu gestalten: einerseits aktiv, den ich will der Welt gern auch noch Gutes geben, aber auch u.a. dem Umstand gerecht werdend, dass meine Kräfte nachlassen und die Arthrose schmerzt. Vor allem würde ich gern auch lernen, einfach „ich zu sein“ ohne mir ständig Leistungen abzuverlangen. Das fällt mir schwer, habe ich mich doch als Single in den letzten Jahren fast nur über Arbeit und Leistungen definiert.
Wahrscheinlich ist es bei dieser Umstellung ganz normal, wenn sich kleine Stimmungstiefs breitmachen. Mir ist auch klar, dass ich lernen muss, meinen Ruhestand so zu leben, wie es für mich richtig ist, und ihn ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Eine Fähigkeit brauche ich noch dazu, eine Fähigkeit, die im Alter immer wichtiger wird: nämlich meine Erwartungen den Umständen anzupassen. Der Gerontologe Andreas Kruse sagt, dass es schon helfen würde, wenn man sich die Rente vorher nicht so rosig ausmalt, wie viele es tun. Und wenn man im Ruhestand nicht so tut, als sei alles wie früher. Er warnt auch davor, von Freizeitbeschäftigungen zu viel zu erwarten. Ein Hobby sei ein Hobby. Eine Aufgabe zu haben sei etwas anderes, und die fehle vielen. Gesellschaftliches Engagement sei auch nicht für jeden das Wahre. Doch irgendeine Form von Arbeit bräuchten viele Menschen – selbst im Ruhestand. Ich finde, da ist viel Wahres dran.
Lasst mich mit diesem Zitat von Jung enden, das mich sehr berührt hat:
„Eine immer tiefer werdende Selbsterkenntnis ist […] wohl unerlässlich für die Weiterführung eines wirklich sinnvollen Lebens im Alter, wie unbequem diese Selbsterkenntnis auch sein möge. Nichts ist lächerlicher oder unpassender als ältere Leute, die tun, als ob sie noch jung wären –-sie verlieren sogar ihre Würde, das einzige Vorrecht des Alters. Die Ausschau muss zur Innenschau werden. In der Selbsterkenntnis wird einem all das aufgedeckt, was man ist, zu was man bestimmt ist, und alles, wovon und wofür man lebt.“
Mein Resümee: Lasst uns einatmen. ausatmen und in Würde altern, so wie es uns gefällt.
von Hilde
Foto-© makarska-1165405_1920
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