Ach nein, jetzt noch nicht, denken wir. Dass das Leben endlich ist, verdrängen wir gekonnt. Dabei braucht es manchmal nur eine kleine Amsel, damit wir uns eines Besseren besinnen. Gedanken zum Jahresende.

Da lese ich in einer Geschichte, wie ein 40jähriger Mann seinen Geburtstag feiert. Er sinniert, dass er sich immer von diesem Geburtstag gefürchtet hätte, wäre er doch der letzte in seinem Leben, bei dem er noch mit etwas Optimismus drauf hoffen kann, noch einmal doppelt so alt zu werden.

Vorsätze

Um eine realistische Chance zu haben, sein Wunschalter zu erreichen, hätte er sich entschlossen mit dem Rauchen aufzuhören. Nur für 40 Jahre. Dann könne er ja wieder, was würde es dann schon ausmachen? Und mehr bewegen wolle er sich auch. Ach, und 16 Kilo abnehmen. Acht davon bereits in den kommenden vier Wochen. Seine Frau schaute skeptisch, die drei Kinder eher amüsiert. Aber das Familienoberhaupt ist durchaus erschüttert. Denn als er jung war, da waren für ihn 40-jährige Tattergreise. Ein Gedanke, der ihn innerlich erschauern lässt, nimmt er doch wahr, dass seine Kinder da ganz ähnliche Vorstellungen von 40-jährigen haben. Und nun will er im Kreis seiner Familie seine letzte Zigarette rauchen. Er zündete sie an, mache einen tiefen Zug. Da gibt es plötzlich einen tierisch lauten Knall.

Alle fahren erschreckt zusammen. Im ersten Moment denken sie, etwas wäre explodiert. 21, 22, 23. Langsam dämmert es ihnen, dass da etwas mit vollem Karacho gegen das Wohnzimmerfenster gekracht ist. Vater, Mutter du Kinder laufen zur Scheibe. Direkt vor der Glastür liegt auf der Terrasse eine Amsel. Regungslos, die Augen geschlossen, die Flügel von sich gestreckt. Obwohl die Hoffnung zunächst noch groß, müssen sich die Anwesenden damit abfinden, dass das Tier tot ist. So fand das fröhliche Fest mit seinen spektakulären guten Vorsätzen ein jähes Ende. Am nächsten Tag beerdigte die Familie den kleinen toten Vogel mit aller gebührenden Feierlichkeit.

Ach nein, jetzt noch nicht

Im wirklichen Leben weichen wir ihm dem Tod lieber aus. Das mag verständlich sein in einer Zeit, die wie keine zuvor von Veränderungen bestimmt ist. Jungsein, Aktivsein, Leistung dominieren. Das Neue überrollt das Alte in immer schnellerem Tempo. Beständigkeit gibt es selten, das Dauerhafte ist überholt. Wir hecheln von Jahr zu Jahr, ja von Job zu Job, Ort zu Ort oder Partner zu Partner – und halten uns nicht mehr mit Abschieden auf. Auch nicht mit dem Abschied von der Jugend. Alt werden kommt nicht in Frage. Können wir das Ende nicht einfach übergehen? Wenn wir nur gesund genug leben, dann könnte doch ein Wunder geschehen.

Diese Ignoranz ist längst Alltag. Dass der Verzicht auf unnötige Sentimentalitäten uns glücklich macht, darf allerdings bezweifelt werden. Denn – das zeigt unsere Geschichte – es nützt nichts, das Ende zu verdrängen – der Tod holt uns ein. Und wer versucht, ihm mit aller Macht zu entweichen, der lernt: Es hätte nicht geschadet, ihm vorher ein wenig Beachtung zu schenken.

von Hilde

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