Ikea duzt mich. Mein Online-Nachbarschaftsportal sowieso, ebenso wie meine oftmals viel jüngeren Kollegen. Die Grenzen zwischen plumper Vertraulichkeit und respektvoller Distanz verfließen.

Eines gleich vorweg: Ich bin das Duzen gewöhnt. Nicht zuletzt, weil das in den Kreativ-Agenturen, in denen ich früher arbeitete, so üblich war. Jeder mir noch so unsympathische Kollege, jeder noch so blutjunge Trainee und natürlich auch der Chef duzten mich. Das sollte Zusammengehörigkeit signalisieren und hatte doch nicht wirklich etwas mit persönlicher Sympathie oder gar Nähe zu tun. Im Gegenteil: Weil man das Du ja in solchen Situationen nur schwer ablehnen konnte, war mir immer etwas unwohl dabei und erhöhte oft die Distanz.

Bei einer Agentur mit amerikanischer Mutter hätte man nun denken können, die Amis hätten uns das Du beschert. Falsch gedacht. Respektspersonen werden in den USA zwar mit „You“ angesprochen, aber immer auch mit einem ehrerbietigen Sir, Madam oder bspw. bei Polizisten mit Officer ergänzt. Die Distanz wird deutlich gehalten. Gerade auch bei Vorgesetzen. „You, Adam, Kollege“ ist weit entfernt von unserem Du. Es ist eher noch zu vergleichen mit dem sogenannten „hanseatisches“ Du wie es beispielsweise manchmal Lehrer bei erwachsenen Schülern handhaben. Beispiel „Ihr Aufsatz, Karin, war wirklich gut“.

Bussi-bussi und nichts dahinter

Das Duzen in Unternehmen hat inzwischen um sich gegriffen. Nicht nur Start-ups, selbst größere Konzerne gehen zum Du über. Erst vor kurzem erzählte mir eine Freundin von ihrem neuen Job und freute sich über das legere Du an ihrem neuen Arbeitsplatz. Das Du gilt dort als kulturelles Leitbild, soll zeigen, wie flach die Hierarchien, wie eng und vertrauensvoll das Miteinander funktioniert. Früher hätte ich das auch geglaubt. Und vielleicht glauben die dortigen Chefs und die Mitarbeiter ja auch, das Du würde die kreative Stimmung fördern.

Doch hinter dieser scheinbar vertrauten Anrede steckt nichts Verbindliches, allerhöchstens der Aberglaube, das Du könnte das Miteinander automatisch verbessern. Doch Erfolg und Wachstum von Organisationen haben nichts mit Vertrautheit zu tun, sondern vielmehr damit, dass jeder das tut, was er am besten kann. Und hinter einer guten Zusammenarbeit steckt „Arbeit“. Reibereien, Interessenkonflikte, die automatisch entstehen, muss man aushalten und moderieren. Wegduzen lassen sie sich nicht. Und „Du machst, was ich sage“ klingt auch nicht angenehmer als in der Höflichkeitsform.

Gerade erinnere ich mich daran, wie mein früherer Chef oft so eine Art Hofstaat hielt. Obwohl scheinbar mit allen gut Freund und auf Du, gab es Auserwählte, mit denen er abends noch die eine und andere Flasche Wein trank. Für mich war das immer eine Demonstration von persönlicher Nähe zur „Macht“ – plumpe Kumpanei. Trotz Du hat das damals mein „Wir-Gefühl“ grundsätzlich beschädigt und meine Achtung vor ihm bzw. seiner Stellung auch. Als ich ihn einmal wegen seines permanenten Zuspätkommens – auch so eine Demonstration von Macht – kritisierte, brachte mich das damals gefährlich nah an eine Kündigung.

Ergo: „Du Arsch“ rutscht schneller raus, als „Sie Arsch“. Etwas mehr Distanz würde gerade vielen geschäftlichen Kontakten manchmal guttun. Und um gut zusammenzuarbeiten, muss man sich nicht nahestehen.

Vom steifen Sie zum provokanten Du

inzwischen scheint das mit dem Duzen nicht nur in Unternehmen, sondern allerorts immer mehr Usus zu sein. Ob im Coffeeshop, bei Ikea oder in den sozialen Medien, selbst im Bus oder beim Shoppen: Wer sich jung und modern geben will, überwindet das Sie. Ich gebe es zu: Mir ist diese aufgezwungene Kumpanei meist lästig – insbesondere, wenn mir das Gegenüber so ganz und gar fremd ist oder  40 Jahre jünger als ich.

Es gab Zeiten, in denen die Ansprache mit Sie oder Du ein Mittel war, um zu zeigen, wer das Sagen hat. Kinder siezten Vater und Mutter. Chefs riefen ihre Sekretärinnen mit Vornamen und den Azubi (damals noch Stift genannt) mit „du da“. Die 68iger dagegen protestierten gegen jegliche Autorität. Jeder wurde prinzipiell und provokant gedutzt. Wer sich dagegen wehrte, gehörte zum Establishment.

Die Dogmatik der 68er erinnert mich an heute: Macht man nicht mit, ist man alt, steif und unflexibel. Egal wie man versucht, sich herauszuwinden, die Schlinge um den Hals zieht sich nur noch enger zu.

Luft zum Atmen

Interessant finde ich, was Peter Walschburger, ein Berliner Biopyschologe, dazu sagt. Der erklärt, dass die Beziehungen zwischen Menschen auf ganz unterschiedliche Weise hierarchisch strukturiert sind. Die Regulierung von Distanz sei ein grundlegendes Geschehen in sozialen Beziehungen. Die räumliche Distanz sei ein Kriterium, weitere Dinge wie Blickkontakt, Gestik und Gesichtsausdruck. Die sprachliche Ebene, also das Du oder Sie, ist davon nur eine von vielen.

Meine Erfahrung ist, dass es „Sie“-Menschen gibt, zu denen ich eine durchaus sehr vertrauensvolle Beziehung pflege. Andere, die ich duze, halte ich mir wiederum mit einer gewissen Haltung auf Abstand. Trotzdem wäre mir lieber, der Trend zur Gleichmacherei wäre umkehrbar. Hat das „Sie“ nicht unseren Respekt und Schutz verdient? Wir müssen doch nicht alle Freunde sein, solange wir uns gegenseitig akzeptieren. Das Du oder Sie ist doch immer eine Frage des jeweils passenden Abstands. Schopenhauer sah das ähnlich und sagte, es gelte die richtige Entfernung herauszufinden, bei der ein Beisammensein bestehen kann. Er nannte dies Höflichkeit und feine Sitte. Wir würden es heute vielleicht einfach Respekt nennen.

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