Kein Mensch scheint mehr Zeit zu haben. Die Terminkalender sind voll. Sogar Rentner sind zu Unruheständlern mutiert. Warum treiben wir uns so an und gönnen uns nicht mehr Muße und schöpferische Pausen? Gedanken über den Verlust der Zeit.


Kürzlich kam eine Bekannte aus dem Urlaub zurück und erzählte von den Tagen, die sie in einem kleinen Dorf in den Schweizer Alpen verbracht hatte. Dort tickten die Uhren langsamer. Nach Feierabend war der Ort wie ausgestorben. Für Maria (sie lebt mitten in Berlin und hat dazu noch ein stressiges Berufsleben) eine ganz ungewohnte Situation. „Dieses herabgeschraubte Tempo und dazu noch die Menge an Zeit, die ich hatte – das war ich so gar nicht mehr gewohnt. Mir wurde klar, wie angenehm ruhige und zwecklose Zeit sein kann – und wie selten sie in meinem Leben geworden ist.“

Verschwendete Zeit

Dabei hatten wir Menschen noch nie so viel Zeit wie heute. Mit modernen Verkehrsverbindungen kommen wir schneller ans Ziel; neuartige Kommunikationswege ermöglichen uns den Informationsaustausch innerhalb von Sekunden; moderne Haushaltsgeräte erleichtern uns den Alltag.

Trotzdem ist in unserer Gesellschaft die Zeitnot allgegenwärtig. Der Grund ist offensichtlich: weil wir die gewonnen Stunden in neue, zeitverbrauchende Tätigkeiten investieren. Denn heutzutage ist (fast) alles zu jeder Zeit möglich:  einkaufen, Sport treiben oder sich zerstreuen. Allein der Fluch der permanenten Erreichbarkeit durch E-Mails und Smartphone hat für viele bereits zwanghafte Züge angenommen. Soziologen sprechen von „Multitasking-Existenzen“, von Menschen, die so sehr in ihre Prozesse verflechtet sind, dass sie den Blick für das Wesentliche verlieren. Sie leisten immer mehr in immer weniger Zeit, beruflich wie privat. Zeit wird „gemanaged“ und nicht mehr bewusst oder gar tatenlos gelebt.

Vor allem ginge uns dabei die Spanne an gemeinsam verbrachter Zeit verloren. Laut Statistik verbringen wir immer weniger Zeit mit Familie und Freunden. Das gemeinsame, zwanglose, nicht an Zwecke gebundene Zusammensein sei selten geworden. Das Verheerende daran: Wir identifizieren andere wie uns selbst primär nur noch über das, was wir tun und nicht mehr über das, was wir sind.

„Ich wär so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun…… Muss nur noch kurz die Welt retten, noch 148 Mails checken. Wer weiß, was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel, dabei wäre ich so gern ….“ Auszug Songtext Tim Bendzko

Das Leben unterbrechen

Das Leben kann man natürlich nicht unterbrechen, aber den Aktionismus. Dumm nur, dass wir unseren heutigen Lebensstil und unser modernes Zeitempfinden so intus haben, dass das mit dem bewussten Pausieren schon gar nicht mehr so leicht klappt. Manche versuchen es mit Schlaf oder Gebet, andere mit Autogenem Training oder Meditation.

Maria beschreibt ihre Versuche so: „Ist Müßiggang nicht aller Laster Anfang? Nichtstun war für mich immer so was wie faul sein. Ich fand es zermürbend. Ging also gar nicht. Entsprechend schief liefen meine ersten Versuche, mal still zu halten. Saß ich auf einem Stuhl, tat mir der Rücken weh. Wenn ich mich auf den Tisch stützte, versteifte mein Nacken. Auf dem Boden schmerzten die Hüftknochen. Meine Nase begann zu jucken, im Fuß kribbelte es. Ich wollte nicht denken, aber die Gedanken hatten sich gegen mich verschworen, fielen wie ein Strudel über mich her. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich meine Gegenwehr aufgab.“

Unruhestand

Auffällig ist, dass gerade meine, sich im Ruhestand befindlichen Altersgenossen kaum mehr Zeit haben. Klar, das mit den müde-gelebten Senioren der 50er Jahre ist schon lange vorbei. Wir sind aktiv und lebenszugewandt. Und das zeigen wir, indem wir viel reisen, Sport treiben, unseren Hobbys nachgehen, uns um die Enkel kümmern oder ehrenamtlich betätigen. Manche gründen sogar neue berufliche Existenzen. Schließlich soll unser Leben noch einen Sinn haben und Spaß machen. Außerdem: wer sein Leben lang geleistet hat, kann nun im Ruhestand nicht einfach den Bordstein hochklappen. Außerdem sind wir Menschen, die noch neugierig sind und noch viel zu geben haben. Trotzdem sollte man doch meinen, dass der Abschied aus der Produktivgesellschaft, neue Freiräume zum eigenen Selbst öffnet. Schade nur, wenn Aktivitäten zur Daseinsberechtigung älterer Menschen werden, Stress zum Statussymbol und der vollgestopfte Terminkalender zum Credo.

Maria lernte, dass es anstrengend ist, zur Ruhe zu kommen und sie zu halten. Irgendwann sei sie zur „Besinnung“ gekommen. Aber als ihr Hamsterrad stand, wäre plötzlich auch ihr Kraftstrom versiegt. „Es war, als hätte ich den Stecker aus der Dose gezogen.“ In der Zeit der Stille sei sie fast verzweifelt. „Da war so viel zu spüren, auch Einsamkeit“. Irgendwann, sagt sie, hätte irgendwas in ihr wieder zu fließen angefangen. Vielleicht wäre das auch immer schon so gewesen, sie hätte es einfach nur nicht mehr gemerkt. Das neue Spüren fühle sich authentischer an, sagt Maria. „Ich fühle mich freier, kreativer. Ich habe sogar wieder mit dem Fotografieren angefangen – einfach so und ohne den Druck, den ich mir früher damit gemacht habe. “

Die Zeit ist unser

Man kann Zeit verlieren, vergeuden, totschlagen, sogar jemandem die Zeit stehlen. Ich mag mehr die Begriffe wie Zeit finden, Zeit schenken, sich Zeit gönnen, sich Zeit lassen. Natürlich beunruhigt es mich, wenn ich merke, wie die Zeit verrinnt und meine Zeit auf der Erde kürzer wird. Die Zeit scheint mit den Jahren auch immer schneller zu vergehen.
Das Wunderbare aber ist, dass die Zeit immer dann langsamer vergeht, wenn ich sie scheinbar vergeude. Wenn ich mir die Zeit nehme, die Dinge genau zu betrachten. Dann wird die Zeit intensiver. Beispielsweise, wenn ich einer Pflanze auf meinem Balkon zärtlich das eine oder andere verblühte Blatt abpflücke – dann ist es manchmal, als würde die Welt den Atem anhalten.

Dann muss ich an den kleinen Prinzen denken. „Guten Tag“ sagte der kleine Prinz. „Guten Tag“, sagte der Händler. Er handelte mit durststillenden Pillen. Man schluckt jede Woche eine und spürt keinen Durst mehr. „Und warum verkaufst du das?“ fragte der kleine Prinz. „Das ist eine große Zeitersparnis“ sagte der Händler, „man spart 53 Minuten pro Woche.“ „Und was macht man mit den 53 Minuten?“ fragte der kleine Prinz. „Man macht damit, was man will.“ „Wenn ich 53 Minuten übrig hätte,“ sagte der kleine Prinz, „würde ich ganz gemütlich zu einem Brunnen laufen.“

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