Von einem ungarischen Mädchen namens Janika, die mit einem „Fürrrrrchtet Euch nicht“ den Hirten die frohe Botschaft verkündete. Und von einem unvergeßlichen Grippenspiel.

Wir waren gerade nach Frankfurt-Sossenheim (ein schreckliches Kaff) umgezogen. Also besuchte ich ab Herbst auch eine neue Schule. Die anderen Kinder in der 6ten Klasse kannten sich alle von Schulbeginn an. Das war keine einfache Situation für eine neue Schülerin. Neu in die Klasse kam auch Janika. Sie und ihre Eltern stammten aus Ungarn. Das konnte man hören, wenn Janika sprach. Sie rollte das R wie Liselotte Pulver in ihrer Rolle als Piroschka. Einige Jungs nannten sie daher manchmal „Paprika“, „Salami“ oder „Gulasch“. Meine Schulkameradin reagierte darauf mit stoischer Ruhe, was den Knaben schnell die Lust am Hänseln nahm. Auch sonst schien sie eher der zurückhaltende, stille Typ zu sein.

Keiner hat es gemerkt

Vielleicht brauchte es deshalb Monate, bis uns auffiel, dass unsere Mitschülerin ganz eigentümliche Essgewohnheiten hatte. Bisher hatte kein Mensch darauf geachtet, ob und was sie in der Pause aß. Und auch wenn sie auf Kindergeburtstage eingeladen war, fiel niemandem auf, dass weder Kuchen, noch Schokoküsse Janikas Begeisterung fanden.

Das änderte sich schlagartig, als die Klasse ein ¾ Jahr später zur Wegscheide, eine Art Kindercamp, fuhr. Janika aß nämlich nichts. Weder morgens, mittags, noch abends. Jedenfalls tat sie nur so. Abends im Schlafsaal kramte sie dann in ihrer Reisetasche und kaute auf irgendwas herum. Das fiel der Nachtwache auf. Und weil doch Essen im Schlafsaal verboten war, nahmen die Dinge ihren Lauf.

Unverrückbar

Seitdem gab es kaum mehr ein anderes Thema: Janika ernährte sich augenscheinlich ausschließlich von Zwieback und Konserven. Weder Fisch noch Fleisch, noch frisches Obst oder Gemüse kamen über ihre Lippen. Gespräche mit den Eltern wurden geführt. Die hatten schon längst aufgegeben, etwas ändern zu wollen: „Hauptsache, das Kind isst überhaupt was.“ Auch wir Mitschüler überboten uns in unseren Anstrengungen, Janika dazu zu bringen, mal einen Apfel oder ein Stück Schokolade zu essen. Vergebens.

Heute in unserer ernährungs-„verrückten“ Zeit hätte man das Mädchen bestimmt von Arzt zu Arzt, vom Ernährungsexperten bis zum Psychiater geschleift. Damals aber gab man einfach nach einiger Zeit auf. Janika sah ja zumindest gesund aus und es schien ihr auch gut zu gehen. All unsere Fragen nach ihren Bewerggründen, blieben unbeantwortet.

Krippenspiel

Dann kam Weihnachten, und der evangelische Pfarrer inszenierte ein Krippenspiel mit Schülerinnen und Schülern aus unserer Klasse. Eigentlich hätte Traudel den Weihnachtsengel spielen sollen. Aber die bekam schon einen roten Kopf, wenn sie mal ein Gedicht vor der Klasse aufsagen sollte. Das einzige andere blonde Mädchen in unserer Kasse war Janika. Also musste sie die Rolle spielen. „Musste“, denn von sich aus hätte sie sich wohl nie gemeldet. Jedenfalls machte sie mit ihrer schlanken Figur, ihrer zarten Glockenstimme und ihren schönen blonden langen Haaren ihre Sache sehr überzeugend. Ihr gerolltes „Fürrrrrrchtet Euch nicht“ blieb unvergessen.

Die Vorführung fand am Nachmittag vor Heiligabend statt. Viele Eltern kamen. Allerdings nicht alle. Es waren halt noch andere Zeiten. Trotzdem war die Kirche voll. Nach der vielbeklatschten Aufführung gab es anschließend für die Gemeindemitglieder noch Kakao, Fruchtpunsch und frische Waffeln im Gemeindesaal. Für uns kleinen Schauspieler hatte die Pfarrersfrau liebevoll Säckchen mit Orangen, Nüssen, Plätzchen und Schokolade als Dankeschön gepackt. Natürlich bekam auch Janika eins überreicht.

Als wir Kinder kurze Zeit später gemeinsam zurück zur Wohnsiedlung laufen wollten, war Janika nicht da. Rosi, Uschi, Traudl und ich fanden sie schließlich im Kirchenschiff inmitten des dort aufgebauten Stalls neben der Krippe sitzend. Janika hatte ihr Säckchen dem Jesuskind (eine Puppe) in die Krippe gelegt und mit dazu ein Päckchen Zwieback und ein Glas Gewürzgurken. Sie summte ein Lied, irgendwas Ungarisches.

Lieb Jesulein

Wir haben bis heute keine Ahnung, was Janika dazu getrieben hat, dem Jesuskind ihr Säcklein zu schenken und ihm ein Schlaflied vorzusingen. Keine von uns 12- bzw. 13-jährigen glaubte damals noch so richtig an „Weihnachten“. Bei dieser Geschichte mit Maria, Josef, dem Engel und den Hirten hatten wir mehr aus Spaß an der Freud mitgespielt als aus christlicher Überzeugung. Trotzdem rührte uns das Bild, das wir vor uns sahen. Und als hätten wir uns insgeheim abgesprochen, hat auch keine von uns jemals anderen von dieser Szene erzählt. Die Jungs in unserer Klasse hätten nur wieder ihre blöden Witze gemacht, und ein paar der Mädchen noch blasierter als bisher auf unsere Mitschülerin herabgeschaut. Unser Heimweg verlief jedenfalls für unsere Verhältnisse recht still. Irgendwie hatte Janikas Geste uns wohl alle irgendwie ans Herz gerührt.

Weihnachtliche Erinnerungen

Noch heute denke ich an Weihnachten manchmal an Janika. Acht Monate nach Weihnachten wechselten die meisten von uns auf die Handelsschule. Janika aber zog mit ihren Eltern fort. Niemand wusste, wieso und wohin. In all den Jahren war es niemanden aus unserer Clique gelungen, sich mit ihr enger zu befreunden. Auch als wir Jahre später wegen eines Klassentreffens nach ihrer Adresse suchten, blieben unsere Bemühungen erfolglos.

Ob Janika wohl bis heute nur Zwieback und Konserven isst? Ob sie immer noch das R wie eine Lokomotive rollt? Und ob sie immer noch ein Herz für Kinder hat, die in einer armseligen Hütte geboren werden?

Im ausgehenden Fontane-Jahr hier für Euch zu Weihnachten noch eines seiner Gedichte, die er im fortgeschrittenen Alter schrieb:

Noch einmal ein Weihnachtsfest,
Immer kleiner wird der Rest,
Aber nehm ich so die Summe,
Alles Grade, alles Krumme,
Alles Fasch, alles Rechte,
Alles Gute, alles Schlechte,
Rechnet sich aus all dem Braus
Doch ein richtig Leben heraus.

Ich wünsche Euch ein fröhliches und gesegnetes Weihnachtsfest. Lasst es Euch gut gehen, tankt Kraft im Kreis Eurer Liebsten und Freunde. Denn das ist doch das schönste Geschenk: beisammen sitzen, anregende Gespräche führen, gemeinsam lachen und vor allem eins, sich gegenseitig wertschätzen! In diesem Sinne freue ich mich auf ein weiteres Jahr Frauensalon mit Euch !

Eure Hilde

Foto: luke-stackpoole-vFsD44ubd-Q-unsplash