Selbst in ganz schlimmen Zeiten, macht ein bisschen Farbe auf den Lippen gleich einen gewissen Unterschied. Warum das so ist und weshalb es unverzeihlich ist, wenn Dior seinen Addict 864 aus dem Programm streicht.
Sie pflegen die Lippen, verleihen ihnen Glanz, sind knallig bunt bis supernatürlich. Und jede von uns hat einen oder gar mehrere. Die Rede ist vom Lippenstift. Der erste, den ich ausprobierte, stammte aus der Schminktasche meiner Mutter. Mein erster eigener war rosa, passend zum auffälligen schwarzen Lidstrich, den die meisten Frauen in den 70er Jahren trugen.
Der erste Lippenstift in der uns bekannten Form wurde übrigens 1883 von Guerlain auf der Weltausstellung in Amsterdam vorgestellt. Allerdings gab es Lippenrot bereits in den Hochkulturen Mesopotamiens. Die Pharaonin Nefertiti tönte ihre Lippen mit Hennalauge. Auch in der Blütezeit Alt-Indiens färbten Frauen ihre Lippen. Erfunden hat die Lippenpomade angeblich ein arabischer Mediziner um das Jahr 1000 n.Chr. Im Barock kam das Schminken der Lippen dann durch Königin Elisabeth I in Europa in Mode. Wusstet ihr, dass sogar Männer über Jahrhunderte hinweg Lippenstift trugen – nicht nur die Ägypter, sondern sogar George Washington?
1770 entschied noch ein englisches Gericht, dass Frauen, die Männer mit Lippenrot bezirzten und so vor den Traualtar lockten, sich strafbar machten. Im 18. Jahrhundert galt das Lippenfärben als sündhaft. Sarah Bernhardt, eine französische Künstlerin, sorgte dann im späten 19. Jahrhundert für Popularität des „Zauberstabs des Eros“, wie sie zärtlich ihren Lippenstift nannte. Signalrot waren die Lippen der Suffragetten geschminkt, als diese 1912 für die Selbstbestimmung von Frauen durch News York marschierten. Der Lippenstift wurde zum Symbol ihrer Bewegung. Im Zweiten Weltkrieg erhielt er sogar eine patriotische Funktion: „Victory Red“ und „Patriot Red“ ließen die Lippen alliierter Damen glänzen, um den Durchhaltewillen an der Heimatfront zu fördern. Die Nationalsozialisten dagegen zogen gegen die „überschminkte Leere“ zu Felde und lehnten Schminke als unnötigen Tand ab.
Lippenstift gibt Würde
Heute ist Lippenstift einer der meistverkauften Kosmetikprodukte mit Glitzereffekten, Feuchtigkeitsformula und allerlei Firlefanz. 87 Prozent der deutschen Frauen verwenden ihn. Die eine hat 100, die meisten von uns mindestens drei zur Auswahl. Tragen wir Lippenstift, fühlen wir uns gepflegter und gleich ein bisschen schöner. Zudem gelten rote Lippen von jeher als Zeichen der Zuversicht, als Symbol der Lust, des Lebens und der Sinnlichkeit. Es scheint, dass rote Lippen also auch immer ein bisschen signalisieren, dass wir Frauen zur Sünde bereit sind.
Überrascht hat mich, dass selbst während der Großen Depression am Ende des 19. Jahrhunderts wie auch während des 2. Weltkriegs Lippenstifte zu den am meisten verkauften Produkten gehörten. Lippenstifte verkaufen sich demnach auch in Krisenzeiten enorm gut. Gerade in schweren Zeiten sind wohl scheinbar unwesentlichen Dinge essenziell.
Henriette Schroeder, die Amerikanische Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Psychologie studierte, interviewte 23 Frauen, die Kriege, KZ, Haftstrafen, Vertreibung u.ä. Schicksale erlebt hatten. Ihr Fazit: „Für viele Frauen war ein Stück Seife mindestens so wichtig wie ein Lebensmittel.“ Die Wiener Psychologin Elisabeth Jupiter bestätigt, dass Frauen gerade in Extremsituationen versuchen, ihre eigene Identität, Weiblichkeit und Selbstachtung zu bewahren, indem sie sich u.a. an Äußerlichkeiten wie an einem Anker festhalten. Das sei ein klares Zeichen für den Überlebenswillen. Dies stelle aber auch eine Art Trotzreaktion auf die Greul dar, die sie erleben. Wer alles verloren habe, so Jupiter, könne auf diese Weise für sich eine Lücke finden, in der noch eine Stück Normalität und Würde existiere. Das helfe, das eigene Selbstwertgefühl aufzubauen.
Dies widerlegt die Ansicht mancher, dass Äußerlichkeiten in schwierigen Situationen völlig unwichtig seien. Das Gegenteil ist der Fall: es gibt einen Zusammenhang zwischen gepflegtem Aussehen und Würde. Jede Frau lebt ihre besondere Art vom Verlangen nach Weiblichkeit – selbst in Zeiten großer Not.
Lippenstift schützt und macht schön
Unsere heutigen Kriege sind Gott lob meist die kleinen: Der Chef ist wieder mal übel gelaunt, das neue Auto hat einen Getriebeschaden, das Kleid vom Vorjahr passt nicht mehr und der Gatte hat auch schon lange nichts Charmantes von sich gegeben. Bei allen Anfällen von Melancholie, liebe Freundinnen, hilft ein Friseurbesuch, ein neues Parfüm oder eben der perfekte Lippenstift. Na ja, wenigstens vorrübergehend.
Genau deshalb begleitet mich mein Lippenstift Dior Addict auch überall hin – obwohl ich mich gar nicht mehr oft schminke. Aber für alle Fälle. 864 ist ein wunderbares, sanftes Beerenrot mit einer herrlich schmelzenden Textur. Sofort bekommen meine Lippen einen gewissen Gloss. Mein blasser Teint wirkt gleich etwas strahlender. Mit ihm fühle ich mich geschützter, bin ich einfach ein bisschen mehr Frau. Ich hinterlasse Spuren – wenigstens auf dem Wasserglas. Was waren das noch für Zeiten, als Männer wohlig erschauderten, wenn sich Frauen in ihrer Gegenwart die Lippen nachzogen. Nun ja, die Zeiten scheinen vorbei zu sein. Doch wenn ich gerade mal wieder aussehe als hätte ich Nächte durchgezecht, dann gibt es nur noch eines, damit ich mich wieder wie eine lebendige Frau fühle: meinen Addict 864.
Könnt Ihr Euch meine Trauer vorstellen, als ich erfuhr, dass Dior die Farbe nicht mehr herstellt? Nach gefühlten hundert Stunden Internetsuche, habe ich einen letzten irgendwo auf Ebay ergattert. Ich hüte ihn wie meinen Augapfel!
von Hilde
Kategorien: Frausein, Inspirationen, Plauderstunde
Tags: Aussehen, Kosmetik, Lippenstift, Selbstwert, Würde
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Da ist der Markenname ja dein Programm: addicted to my lipstick.
Wieder mal ein amüsanter und informativer Artikel. Danke Dir.
Komischerweise hab ich es gar nicht so mit Lippenstiften. Mag daran liegen, dass ich noch nicht den richtigen gefunden habe.
Liebe Grüsse Gitta